Das Kopieren von Musikalien durch handschriftliches Abschreiben gehörte bis in das vergangene Jahrhundert hinein zu den führenden Reproduktionstechniken und wurde im 19. Jahrhundert sowohl von professionellen wie semiprofessionellen Kopisten als Handwerk ausgeübt. Die Funktion der so erzeugten Abschriften ist durchaus mannigfaltig:
Sie dienten als Widmungsexemplare, wurden dabei meist als Reinschrift des Autographs angefertigt und dem Widmungsträger übergeben. Andere Abschriften bildeten die Vorlage für die Erstellung von Stimmenmaterial oder wurden selbst als Aufführungsmaterial und Dirigierpartituren verwendet.
Auch für die Werke Anton Bruckners, der als Komponist vor allem für seine elf Symphonien und drei großen Messen bekannt ist – sein Œuvre umfasst aber auch weltliche wie geistliche Chorwerke und Kompositionen für kammermusikalische Besetzung – sind neben den autographen Partituren auch zahlreiche Abschriften von diversen Kopisten überliefert. Eine Besonderheit für Bruckner ergibt sich daraus, dass – von den Messen und einem Teil der Symphonien abgesehen – die Inverlagnahme der Werke erst posthum erfolgte. Die Abschriften waren daher für die Aufführung der Werke von großer Bedeutung und maßgeblich für die Verbreitung im Konzertrepertoire und damit für die Popularität des Komponisten verantwortlich.
Eine weitere Sonderstellung der Abschriften ergibt sich mit einem Blick auf die Fassungsfrage der Brucknerschen Symphonien: Wie durch die Forschung bereits offengelegt, dokumentieren die Abschriften einen Werkstatus, der durch die ‚Originalmanuskripte‘ mitunter nur teilweise rekonstruiert werden kann. Nicht nur die Partiturabschriften, sondern auch die Stimmauszüge spielen in diesen Revisionen eine Rolle, wenn aus aufführungspraktischen Gründen Eingriffe am Notentext vorgenommen wurden. Nicht zuletzt bei der Inverlagnahme der wenigen zu Bruckners Lebzeiten gedruckten Werke wurden die Abschriften als Stichvorlagen einem weiteren Verwendungszweck zugeführt. Bei der Chronologie der Werk- und Fassungsgenese stellen sie somit einen essentiellen Bestandteil der Überlieferungsgeschichte dar und verdeutlichen in ihren verschiedenen Funktionen die Vielschichtigkeit ihrer Verwendung. Umso notwendiger erscheint die vollständige Identifizierung und Erfassung derjenigen, die diese Abschriften herstellten: der Kopisten.
Ziel des Projektes soll es daher sein, anhand der ca. 700 bisher erschlossenen handschriftlichen Quellen eine Auflistung aller Kopisten der Brucknerschen Werke zu erstellen. Für die Linzer Zeit (bis 1868) wurde eine solche Katalogisierung der Schreiberhände bereits von Paul Hawkshaw vorgenommen. Für die Jahre ab 1868, d. h. mit Bruckners Übersiedelung nach Wien, fehlt eine solche Aufstellung jedoch gänzlich. Da der überwiegende Teil des Œuvres aber erst in der Wiener Zeit entstand, stellt sich hier ein besonders dringliches Forschungsdesiderat.