Zum Vergleich und zur Identifizierung der verschiedenen Schreibprofile verwendeten die Autoren ein System der graphologischen Analyse, das durch Bengtssons und Danielsons erstmals in einer Studie über den schwedischen Komponisten Johan Helmich Roman erprobt wurde.7 Die Handschrift jedes Kopisten wurde dazu in einzelne Grapheme unterteilt – kleinstmögliche Einheiten, die das Schreibprofil einer Person bzw. eines Schreibers definieren. Für die Analyse der Schreibprofile ist für den überwiegenden Teil der Musikhandschriften des 19. Jahrhunderts bspw. die halbe Note eine adäquate Einheit, da sie in nahezu sämtlichen Handschriftentypen in verschiedenen Ausprägungen vorkommen kann:
Jede der hier vorgestellten Ausprägungen einer halben Note kann als unterschiedlich definiertes Graphem gewertet werden. In den meisten Musikhandschriften des 19. Jahrhunderts – die Bruckner’schen Autographe und Abschriften eingeschlossen – legen jedoch die Unterteilung in größer gefasste Kategorien nahe, die in ihrer Gesamtheit die Konstitution der Schreibprofile sowie deren Vergleich ermöglichen:
Wenngleich die Identifizierung und Unterscheidung von Schreibprofilen durch diese Methodik in großen Maße objektivierbar ist, sind gewisse Unschärfen bei der Bestimmung des Schreibprofils nicht auszuschließen. Viele Faktoren lassen sich anführen, die zu Varianten im Schreibprofil führen: dazu zählen die bewusste Veränderungen aufgrund kalligraphischer Anforderungen, Abweichungen und Veränderungen aufgrund des Alters, der Stimmung oder körperlichen Verfassung des Kopisten. Weiterhin können auch veränderte Beleuchtungsgrade – neben Tageslicht dienten nur Kerzen oder Öl- und Petroleumlampen als Lichtquellen – die Schreibsituation verändern und damit auch Variationen im Schreibprofil hervorrufen.
Eine besondere Unwägbarkeit bilden die Titelblätter vieler Abschriften, da diese meist elaborierter als der Rest der Abschrift gestaltet sind. Um diese Problemstellung nicht unberücksichtigt zu lassen, wurden derart aufwendig kalligraphierte Titelblätter nicht in die Auflistungen einzelner Kopisten miteinbezogen. Konträr zur Unbestimmbarkeit des Zusammenhanges zwischen Titelblatt und folgender Abschrift zeigen sich auch Einzelfälle in denen Kopisten das Schreibprofil eines anderen Kopisten nachahmen: so bemühte sich bspw. Anonymus 001 (L), der für Stimmensätze und weitere Abschriften eng mit Schimatschek zusammenarbeitete, erkennbar bewusst um die Nachahmung der Handschrift Schimatscheks. Spekulativ lassen sich solche Annäherungen auf das Bestreben eines einheitlichen Erscheinungsbildes der Abschriften oder die gleiche schreibspezifische Sozialisation zurückführen. Lediglich die Vielzahl an erhaltenen Abschriften beider Kopisten ermöglichte letztendlich die Unterscheidung. Gerade für Kopisten bei denen bisher nur eine Abschrift vorliegt, kann eine etwaige Fehlattribution daher als wahrscheinlich gelten, da sich erst mit der steigenden Anzahl an dokumentierten Schreibcharakteristika die Qualität der Analyse steigert und somit Unschärfen ausgeschlossen werden können.
Neben den genannten Abweichungen, die in verschiedenen Faktoren begründet liegen, lassen sich noch zwei weitere denkbare Szenarien beschreiben, die zu Fehlzuschreibungen führen können: Einerseits können geschriebener Notentext und unterlegte Textierung innerhalb einer Abschrift von zwei verschiedenen Schreibern angefertigt worden sein. Dabei ist es ohne weitere Vergleichshandschriften beider Kopisten nahezu unmöglich mit der vorgestellten Analyse der Grapheme beide Schreiber gesichert zu bestimmen bzw. zu unterscheiden. Andererseits müssen Signierung und Datierung einer Abschrift insofern angezweifelt werden, als dass es sich dabei um „wörtlich“ abgeschriebene Datierungen oder Unterschriften aus der jeweiligen Vorlage handeln könnte. Diese Praxis ist vor allem bei den von Max Auer und Kopist J. H. im Rahmen der Göllerich-Auer-Biographie angefertigten Abschriften festzustellen, in denen jedoch zumeist die autographe Datierung und Signierung Bruckners übertragen wurde. Sollten weitere Kopisten ähnlich vorgegangen sein, ist es verständlicherweise nur mittels der Kopiervorlage selbst oder mit weiteren Abschriften des Kopisten möglich eine solche Datierung zu falsifizieren. Unter Berücksichtigung der genannten Problemstellungen die zu Fehlzuschreibungen führen könnten, sollten, wie Bengtsson und Danielson betonen, „die Risiken von Fehlern nicht übertrieben werden”, wenn eine positive Identifizierung erfolgte.8 Vor allem weitere brucknerspezifische Quellenfunde sowie komponistenübergreifende Untersuchungen werden helfen, den vorliegenden Katalog zu ergänzen und zu verbessern.
For comparing and identifying the various hands, the authors employed a system of graphological analysis based on Bengtsson’s and Danielson’s study of the Swedish composer Johan Helmich Roman.7 The handwriting of each copyist has been broken down into component graphemes – minute units that make each person’s writing style unique. For most hand-written nineteenth-century music, for example, a half note is a useful unit to analyze. In any group of manuscripts, there are normally different types of half note according to:
Each of these different types of half note constitutes a different grapheme. In most nineteenth-century music manuscripts including Bruckner’s, graphemes fall into larger categories that are useful for comparing the hands in different sources:
Of course, the effectiveness of these sorts of analyses is limited by factors that can cause a person’s handwriting to vary. Deliberate alterations for calligraphic purposes, and changes due to age, mood, illness or intoxication, for example, are always potential sources of error. Available lighting could also have been a factor – besides daylight, only candles or oil and gas lamps were available. The calligraphy of the title pages can pose particular problems; many have elaborate scripts that differ from those of the subsequent music pages. To avoid speculation as to whether they may or may not be in the same hand as the remainder of the source, in this catalogue, title pages of some sources have been omitted from the lists of foliations for specific copyists. There is also the case of Anonymus 001 (L) of Linz who worked closely with Franz Schimatschek and made an apparent conscious effort to imitate his handwriting, presumably with the objective that sources they prepared jointly would have a uniform appearance. In this case, enough manuscripts have survived in both hands to allow them to be distinguished. Because increased documentation improves the accuracy of all these analyses, misattributions resulting from exceptional circumstances will most likely occur among the anonymous copyists for whom only one or two sources are available.
Apart from variations resulting from exceptional circumstances, there are at least two conceivable situations which could also lead to misattributions. First, a manuscript could exist in which one person wrote all the music, and a second wrote all the verbal material with the same or similar writing implements. Without other examples of text and music by both copyists, it is almost impossible to detect such a manuscript using the type of analysis described here. Second, a misattribution could result from relying upon an apparent signature in a source that someone copied verbatim, signature and all, as Max Auer and J. H., for example, often did when they copied Bruckner’s manuscripts. Such a case will remain undetected without at least one more manuscript that can be proven to be either in the hand of the person who prepared the original exemplar or in that of the person who made the copy. Despite these potential sources of misattribution, as Bengtsson and Danielson point out, when it comes to questions of positive identification “the risks of errors should not be exaggerated.”8 Those which do exist will come to light as more sources are considered, and the present catalogue can be adjusted accordingly.